Nekrolog



Ein Nachruf auf Ernst Marow von Prof. Dr. Arno Schmidt, Korbach


 


Lieber Ernst,  

 
Du bist auf dem Wege!

Dieser Satz fiel mir ein, als Sabine mich anrief und mir mitteilte, dass Du dieses Leben verlassen hast.

Du siehst, ich bleibe bei der Frage, über die wir uns immer austauschten:  

Was ist Wirklichkeit?  Sie ist nicht das, was besteht – das jetzt, in diesem Augenblick, Bestehende, ist nicht wirklich; denn indem ich Bestehendes als gegenwärtig wahrnehme, ist es bereits nicht mehr gegenwärtig; es ist vergangen.    

Der Grieche Heraklit sagt das so: „ … Wir sind und <zugleich> sind wir nicht.“  

Das heißt, das Wirkliche der Gegenwart ist nur insofern wirklich, als es mit dem Unwirklichen verbunden ist.

Wir könnten zur arithmetischen Verdeutlichung dieser Sätze auch auf die Multiplikation hinweisen: (+4) x (-4) = -16.

Das positiv Wirkliche ist umschlagend zugleich dessen Gegenteil; das können wir mit den Sinnen nicht wahrnehmen, nur denken.    


Es bleibt unsere Frage, lieber Ernst:    Was ist das Wirkliche?

Bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage machtest Du mir wieder lebendig und wirklich, was Deine Passion ständig war und von mir im Drangsal des Alltags außer Bewusstsein geraten war.

Plötzlich lehrtest Du mich, wieder einzutauchen in das Dunkel des Vergangenen, nachdem ich den Grenzfluss, die Styx, durchschwommen und vorbei am grausigen Kerberos Einlass gefunden hatte:  

Ich konnte wieder Wirklichkeit wahrnehmen und den Mythos von Odysseus singen und traf wieder Formen, Farben und Gestalten in Deinen Radierungen und Gemälden.

Du lehrtest mich auch, endlich wieder Wirklichkeit als eine durch die Kunst geschaffene und als einzige Wirklichkeit zu erkennen.

Und von den Formen, Farben und Gestalten kamen wir zu den Tönen und natürlich zu den Texten und zur Sprache.

Wir fanden uns in dieser Einheit von Form, Farbe, Ton, Text und Sprache als alleinige Wirklichkeit und in der Wirklichkeit als gelebte Vergangenheit.  Wirklichkeit ist also nichts, was wir als bereits Bestehendes vorfinden, sondern das, was wir gestalten.    

Nur der Künstler ist es, der Wirklichkeit schafft.

Und da er von sich aus erst durch seine Gestaltung Wirklichkeit schafft, wird er Lehrer der Menschheit.   


Wir dürfen getrost Hölderlin verallgemeinern:

Er nannte zwar nur den dionysischen Dichter, „des Weingotts heiligen Priester“, einen Lehrer der Menschheit.

Wir nennen den Künstler einen Lehrer der Menschheit.  

Die gelebte Wirklichkeit, die wir als eigentliche Wirklichkeit fanden und um die wir uns sammelten, führte Dich zum griechischen Mythos, dessen Wirklichkeit Du in Deinen Radierungen und Gemälden vor unsere physischen und geistigen Augen hobst.

Was Du aus dem genannten Dunkel ins Licht holtest, ragt jetzt über uns hinaus in die künftige Zeit, in die dritte der konventionellen Zeitstufen.

Zeit wird erst dann eigentliche Wirklichkeit, wenn durch die Kunst Zeit als Einheit empfunden werden kann.

Übrigens durch diese Einheit wird Unsterblichkeit begründet.    

Das alles aber liegt nicht wie ein Lehrsatz oder eine Formel vor uns – nein, es muss erträumt werden.

Die vom Künstler gestaltete Wirklichkeit ist eine beständig erträumte Wirklichkeit, beileibe kein Hirngespinst, sondern ein Traum, ein schwerer manchmal; aber ein Künstler … - d. h. Du folgtest diesem Traum bis jetzt, und wir durften und dürfen teilnehmen usque ad finem, wie Du, bis zum Ende.


Traum ist Anfang und Ziel jeder Kunst, und das begründet Unsterblichkeit.

Der Lebenstraum des Künstlers, eines schöpferischen Menschen, besteht aus Rastlosigkeit.

Es gibt also beständige Arbeit daran, einen Traum Wirklichkeit werden zu lassen – Wirklichkeit in der Kunst durch die Kunst.  

Und da sind wir nun in der Wirklichkeit, die unsere Sinne führt.

Wir spüren diese in Deinem opus magnum.

Nehmen wir nur die Radierungen zur Odyssee mit dem Titel „Für Odysseus“.

Sie zeigen Dich als den Leidenden, den viel Umgetriebenen, den    πολύτροπον, den Ruhelosen, der in den Hades steigt, um wie Orpheus oder Theseus oder Herakles jemanden heraufzuholen.

Das Dunkle wird im lichten Bilde wirklich:  Nausikaa, Penelope, Laertes, Eurylochos – Archetypen, die den Kosmos hier oben füllen, Melantho, die Magd, Rauhbeine, die vom Meere nichts wissen.

Mit denen lebtest Du, von denen träumtest Du – Deine Wirklichkeit.  

Für Künstler, wie Du einer bist, gibt es daher wohl die beiden Zeitstufen der Konvention, Vergangenheit und Zukunft; aber an die Stelle der Gegenwärtigkeit müssen wir etwas anderes setzen:    Wirklichkeiten, die aus Traum und Arbeit fließen.

In Wahrheit findet sich also außer der Vergangenheit und der Zukunft die Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit war Dein Weg, lieber Ernst, und die Wirklichkeit ist jetzt Dein Weg. Wirklichkeit außerhalb der Zeitstufen, außerhalb unserer Tageserfahrung, außerhalb begrenzender Formen.

Diese Wirklichkeit nannte der Grieche Anaximander τὸ ἄπειρον, das Grenzenlose, Unbegrenzte:    Daraus werden wir, dorthin gehen wir.    


Uns bleibt jetzt die Trauer über die Trennung von Dir, lieber Ernst, ach, eher sollte ich sagen: lieber Odysseus – uns bleiben die Trauer und die Freude, dass diese Trennung nur eine begrenzte Zeit dauert.  

Die Gottheit vergisst niemanden – und sie wird uns trösten.    

Sabine ganz besonders.

  
Diese Worte wollte ich Dir zum Abschied zusprechen und vielleicht noch das Gedicht senden, das ich Dir vor Jahren schon einmal wie einen Ball zuwarf und das Du mir, von eigener Hand mit einigen Farben ausgeleuchtet, zurückwarfst.





B a l l w u r f

  
   Weiter Ballwurf,    

von Ufer zu Ufer  

auf schwingendem Licht  

und dort das Kind

- Du kennst es nicht –    

im treibenden Wind.

 

Jetzt wendet er sich  

von Aiolos’ Hand  

und bläst die Töne  

der Kirke  

an Dein Herz;

   es schlägt nicht immer    

vergebens  

wie der Bogen in der Hand  

des Spielenden. 


Spieler, Du, und Geige,

   beide umarmt Ihr die Brücke  

und spannt im Fluge  

Anfang und Ende.  

Da kommt dann wieder  

vergangener Jahre Glanz.


Ein Ballwurf weiter,

   und es bleibt  das eine Ufer,    

die Brücke über sich selbst.




Prof. Dr. Arno Schmidt

 Korbach





Der Autor vorgestellt

Prof. Dr. Arno Schmidt ist klassischer Philologe, pensionierter Universitätsprofessor an der Carl-von-Ossietzky-Universität zu Oldenburg, Honorarprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und lehrte zuletzt am Institut für Philosophie der Philipps-Universität zu Marburg

mit dem Schwerpunkt

'Entwicklung der antiken Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte'.

Prof. Dr. Arno Schmidt lebt in Korbach / Waldeck und veröffentlichte

zahlreiche Monographien sowie wissenschaftliche Publikationen zur Philosophie wie


'Die Geburt des Logos bei den frühen Griechen'

 

'Das Elend des Logos - antike Philosophie nach Aristoteles'


'Der Glanz des Logos - die Philosophie der Klassiker'


'Als die Nacht die Welt gebar - Mythen und Philosophie der Griechen

und was daraus wurde'



Im Band  'Schweigende Apfelblüten', erschienen im Jahr 2015,

publizierte der Thuringi-Verlag die in mehr als fünf Jahrzehnten entstandenen Gedichte von Prof. Dr. Arno Schmidt - in lyrischer Form widmet er sich hier  verschiedenen Sujets; reflektiert sein Erleben und Empfinden u.a. zur Schöpfung sowie Zeitgeschichte, Antike und Glauben.