Profile  -  Impulse


Zur Sache - Erfahrungen eines freien Malers


Eine Rede, gehalten von Ernst Marow zur Eröffnung der Ausstellung

 "Profile - Impulse" in der Orangerie Hannover-Herrenhausen im September 1981
als Dankesrede der Niedersächsischen Künstlerstipendiaten 

(Bildende Kunst, Musik, Literatur) der Jahre 1979 - 1981


***


Der Maler soll eine Rede halten. Er ruft den Geist von Wolfenbüttel an: 

 O Gotthold Ephraim Lessing! "Bilde Künstler - rede nicht!"

Dann verfaßt er eine Vorbemerkung, 14 'Minutenbrenner' und 

eine Geschichte in zwei Teilen.
Den Rest überläßt er der Phantasie der Zuhörer.


***

 

Ist der Maler frei?  Ist er es?  Wird er es?  Bleibt er es?  Der Maler ist frei! 

Das sagen ihm sein Bewußtsein, die Arbeit und die Steuerbehörde.

Wird der Maler frei?  Er wird freier - durch die Arbeit, hoffentlich!

Bleibt der Maler frei? Das wird sich zeigen.


1.

Atelierfenster: 

Morgens sieht der Maler immer die Leute mit den Aktentaschen. 

Sie gehen zur Straßenbahn Nr 5 und 6, pünktlich, oft rennen sie. 

Am Nachmittag kommen sie zurück, langsamer 

und nicht mehr so aufrecht. 

Zum Wochenende ist ihr Schritt beschwingter, 

samstags, vor allem sonntags bleibt die Straße leer. 

Dann kann man gut arbeiten. Baschlakow sagte das auch immer.


2.

 Der Maler geht in den Park und besieht seine Bäume.

Er studiert ihre Form, ihre Rinde, ihre Gesten, bei Sonne, bei Regen, 

im Frühjahr, im Sommer, im Winter.Immer wieder. 

Manchmal zeichnet er, meistens beobachtet er, vergleicht, mißt mit den Augen, füllt sich mit "Baum".

Das dauert seine Zeit und sieht nach Spaziergang aus.

Er mißtraut dem ersten Eindruck, der fast immer ein Gemisch von Wahrheit 

                                               und Lüge ist.

Er will Zuverlässigkeit, keine Erregung. Er respektiert die Dinge.

3.
Der Maler geht in den Zoo.              
Als er um die Ecke biegt, sieht er blitzartig über blaugrauen Gräsern die Rückenlinie des Tigers.
Sie windet sich schlangengleich, eine Welle geht vom Hinterteil aus 

und schiebt sich nach vorn.
Hin und her.
Dazu funkelt das Fell.
Der Zaun ist plötzlich verschwunden. 
Erregt! Der Schlag ging unter die Gürtellinie!

4.
Der Maler steht vor seiner Leinwand.
Der Kopf ist kühl, im Bauch spürt er Tigerhaftes.
Er spürt das Format in den Schultern, Maße in den Fingern, 
im Brustkasten treffen die Linien von Himmel, Rücken und Gräsern zusammen, heben und senken sich.
Irgendwann fällt dann der erste Strich, ein zweiter antwortet, ein Geflecht von Sache und Energie entsteht.
Schwerarbeit!
Im Übrigen: Das wurde ein langes Gefecht in Stufen, mit Mißerfolgen, Neuansätzen.
Einige Leute sahen das.
Rentabilitätsrechnungen verbieten sich von selbst.

5.
Der Maler findet einen Kunden.
Der hatte in der Galerie ein Bild aus dem Bord gezogen und war nicht davon losgekommen.
Hatte zwei Nächte nicht geschlafen, eine Woche mit seiner Frau diskutiert, war dann zur Bank gegangen.
War betroffen! - Der Maler ebenfalls.
Ein Glücksfall - so entstehen Freundschaften; selten, aber lebenswichtig und vorhaltend.

6.
Ein zweiter Kunde kauft ein Bild, 
er wünscht diese und jene Bedingung, Ratenzahlung, Rabatt, freie Anlieferung im Frühjahr, erste Rate zu Weihnachten.
Fragt nach dem Kurswert, indirekt.
Er baut, braucht ein neues Auto, Urlaub. - Aber er ist wirklich begeistert! 
Der Maler wiegt das Haupt, zuweilen sprachlos, fragt seine Frau, die rät zu.

7.
Ein Bild wird angekauft.
Eine klare Sache, der Maler freut sich, 
desgleichen seine Frau, Spezialistin für Sonderangebote und Preiserhöhungen im Supermarkt.
Wo wird es landen?
Hauptsache, es ist ein gutes Bild!

8.
Abendunterhaltung: Merkwürdige Leute.
Sie explodieren zentrifugal, je weiter desto besser, 

bei dunklem Horizont mauern sie (Ölkrise).
Verhalten sich meistens nach Papagenos Worten:
Sie reden viel und kaufen nichts. Stehlen Zeit. Dann wieder echt Bewegte. Keine durchgehende Linie, unberechenbar.
Also nicht rechts, nicht links sehen!

9.
Der Maler wird gelobt und erhält einen Preis.
Er freut sich, seine Frau freut sich.
Er atmet tief ein und sagt: "Entwicklungshilfe".
Dann kauft er eine Mettwurst, lufttrocken, die Seele Niedersachsens, 
später Farben, Leinwand, Keilrahmen, macht eine Reise.
Der Dank? 
Er hängt an den Nägeln.

10.
Der Maler beschließt, manches nicht so ernst zu nehmen.
Sein Zahnarzt bezeichnet ihn als Knirscher 

und verkauft ihm eine teure Plastikschiene,
im Munde zu tragen, nachts vor allem.
Nach einer Woche wirft er das Ding beiseite und knirscht nicht mehr, er hat begriffen (die Spannungen):
Nun beißt er nurmehr ab und an im Schlafe kräftig zu.
Das ist besser; denn auch sein Kunsthändler meint, 

man müsse vor allem "Biß" haben.

11.
Der Maler geht ins imaginäre Museum.
Er liebt diese Gänge.
Er findet ein Bild von James Ensor, ein Selbstportrait.
Der Maler im Malkittel mit Palette und Pinsel, 
demütig knieend vor seiner Muse, in einem leeren Raum, 

die Muse wie ein Erzengel.
Ein unmögliches Bild, unwirklich? Oder?
Wie gesagt: James Ensor.

12.
Der Maler verfolgt die neueste Politik.
Gesundheit? Gott erhalte Franz den Kaiser und die AOK.
Altersversorgung? Kein Problem: er bleibt jung.
Dann geht er auf einen Hügel und hält Ausschau nach ökologischen Nischen.

13.
Der Maler liest eine Kritik und denkt: "Das ist ein weites Feld!"
Müßte tiefer gepflügt werden, nicht nur geharkt, 
auch sollte man wieder kräftiger misten und jauchen, 
schließlich sind wir ein Agrarland.

14.
Der Maler geht meistens zu Fuß, nach Kompass mit fester Marschzahl,
Hauptrichtung: geradeaus.
Das ist nicht einfach, die Realität besteht nicht nur aus Ebene.
Manchmal trifft er Kollegen, in seltenen Fällen den Zug der Zeit.
Der ist immer knackevoll, von der 1. Klasse bis zu den Trittbrettern.
Und ein Lärm!
Alles redet, denn keiner weiß, wohin er fährt,
bis auf die Kunsthändler, die haben die Nase im Wind,
die Kritiker, die wenigstens die Richtung festlegen wollen
und die Jury`s, in ihren Abteilen, die es genau wissen.
Der Maler fährt "für Reisende mit Traglasten" und steigt bald wieder aus.
Er will weder Lokomotivführer werden, noch hinterherlaufen.

***


GESCHICHTE

Ein heißer Spätsommertag in der Hängematte. 

Der Maler fährt mit Joseph Conrad einen dunklen Fluß in Afrika hinauf.
"Der Geruch des Schlammes, des Urschlammes - Himmel ja!

 stach mir in die Nase. 
Die Wand des Pflanzenwuchses, ich spürte die geheimnisvolle Stille, 

die mir bei meinem Affentheater zusah,
genauso wie sie euch, Freunde, zusieht, wenn ihr eure jeweiligen Seiltänzerkunststückchen ausführt . . ."
Hier schreckt ein harter, kehliger Schrei auf, 
über mir schwebt ein großer Vogel,

 in dessen roten und blaugelben Schwanzfedern die Sonne feuert.
Er landet vor mir auf dem Ast einer hannöverschen Tanne und sieht mich an.
Ich bin starr!
Der seltene Vogel bleibt in unserem Viertel, 
hängt in den Bäumen zwischen Tauben, Amseln, Spatzen, immer allein, 

aber unverdrossen.
Er antwortet bald auf mein Pfeifen, verschmäht jedoch Subventionen.
Bei schlechtem Wetter flucht er lauthals auf Ara und bleibt, was er nunmehr ist - ein freischaffender Vogel.
Der Winter kommt, seine Aus - und Ansprachen werden ruppiger.
Er übernachtet an Schornsteinen.
Wir nehmen teil, seine farbigen Stürze durch den hannoverschen Grauschleier verwandeln das Umfeld.
Wir bewundern ihn, 

wenn er nach Frostnächten räsonierend in den kahlen Ästen hängt.
Ein tapferer Kerl, ein sozialer Fall, ein Außenseiter, aber kein Sozialfall, 

er bleibt autark.
Kommt er durch?
Eines Tages ist er weg.
Hat er es nicht geschafft, hat er sich einen komfortablen Käfig gesucht oder hat ihn am Ende die Katz gefressen?
Wir sind traurig, der Himmel ist wieder grau.


                                                                        Ernst Marow, September 1981











 






Ernst Marow, um 1975